Ein verbreitetes Problem – Lerninhalte verstehen, aber nicht vermitteln können
In meiner Praxis als Lernberaterin stoße ich immer wieder auf eine zentrale Schwierigkeit: Lernende können oft nicht auf den Punkt bringen, was sie gelernt haben. Selbst wenn sie theoretisch den Stoff beherrschen, fällt es ihnen schwer, die Inhalte klar und strukturiert wiederzugeben, sodass andere sie verstehen. Es ist nicht so, dass es ihnen an Wissen mangelt – sie wissen viel. Das Problem liegt eher darin, das Wissen präzise zu kommunizieren und im Kontext anzuwenden.
Viele Lernende sind es gewohnt, passiv Wissen aufzunehmen. Sie konsumieren Informationen, ohne sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Das führt zu einem oberflächlichen Verständnis, das in Prüfungssituationen oder bei der Anwendung im Berufsalltag oft nicht ausreicht. Hier stellt sich die Frage: Was läuft schief und wie können wir Lernende dabei unterstützen, ihre Inhalte so zu verinnerlichen, dass sie sie eigenständig anwenden und erklären können?
Die Rolle der Künstlichen Intelligenz im Lernprozess: Fluch oder Segen?
Mit der zunehmenden Verbreitung von Künstlicher Intelligenz (KI) wie Chatbots und Lernplattformen, die Lerninhalte "mundgerecht" aufbereiten, wird es immer einfacher, Antworten auf Fragen oder Zusammenfassungen von Texten zu bekommen. Dies kann einerseits eine enorme Entlastung sein, da Lernende durch KI gezielt Informationen finden oder Verständnisfragen klären können. Doch genau hier lauert auch eine Gefahr: Wenn Lernende sich ausschließlich auf KI verlassen, laufen sie Gefahr, die Fähigkeit zu verlieren, selbstständig zu denken und Inhalte kritisch zu hinterfragen.
KI bietet oft die Illusion, dass Wissen auf Knopfdruck verfügbar ist. Doch wie sieht es mit dem tiefen Verständnis und der Anwendung des Gelernten aus? Ist es wirklich förderlich, dass KI Lerninhalte so komprimiert und vereinfacht, dass Lernende das Gefühl haben, sie ohne größere Anstrengung "verstanden" zu haben? Die Antwort ist oft ernüchternd: Ohne das aktive Einbinden des Lernenden in den Denkprozess bleiben viele Inhalte an der Oberfläche hängen.
Das Problem: Oberflächliches Lernen und mangelnde Reflexion
Ein wesentlicher Grund, warum Lernende oft Schwierigkeiten haben, Lerninhalte wiederzugeben, liegt im Prozess des „oberflächlichen Lernens“. Viele Lernende lesen Texte, machen sich Notizen oder hören Vorlesungen, ohne wirklich zu reflektieren. Das Ergebnis: Sie haben den Eindruck, die Inhalte zu kennen, doch wenn sie diese erklären sollen, fehlen ihnen oft die passenden Worte oder der notwendige Zusammenhang.
Die zunehmende Digitalisierung des Lernens trägt zu diesem Problem bei. Lernplattformen und Apps präsentieren den Stoff oft in kurzen, verdaulichen Happen. Das mag auf den ersten Blick praktisch erscheinen, fördert aber oft kein tiefes Verständnis. Ein bekanntes Phänomen ist das sogenannte „Bulimie-Lernen“, bei dem Lernende Inhalte kurzfristig in sich hineinstopfen, um sie in der Prüfung wieder „auszuspucken“, ohne dass sie nachhaltig etwas davon behalten.
Hier schließt sich der Kreis zur KI: Wenn Lernende sich zunehmend darauf verlassen, dass Maschinen für sie denken, reflektieren und analysieren, bleibt der aktive Lernprozess auf der Strecke. Doch wie schaffen wir es, Lernende zu motivieren, sich wieder intensiver mit den Inhalten auseinanderzusetzen und eigenständig zu denken?
Die Lösung: Eigenständiges Denken und Reflektieren trainieren
Eine zentrale Frage, die sich stellt, ist: Wie können wir Lernende dazu ermutigen, ihre eigenen Denkprozesse zu schärfen und zu trainieren? Hier einige Ansätze, die ich in meiner Arbeit als Lernberaterin erfolgreich umsetze:
1. Aktive Auseinandersetzung mit dem Lernstoff
Lerninhalte müssen aktiv verarbeitet werden. Anstatt nur zu lesen, ist es wichtig, dass Lernende sich selbst Fragen stellen, Verknüpfungen herstellen und die Inhalte kritisch hinterfragen. Diese Art des „aktiven Lernens“ erfordert zwar mehr Zeit und Energie, ist aber wesentlich effektiver, um tiefes Verständnis zu fördern. Es kann hilfreich sein, regelmäßig Zusammenfassungen zu schreiben oder den Stoff laut zu erklären – entweder sich selbst oder anderen.
2. Peer-Learning und gegenseitiges Erklären
Ein bewährtes Mittel, um das Verstehen zu fördern, ist das gegenseitige Erklären von Lerninhalten. Wer einem anderen den Stoff verständlich machen muss, ist gezwungen, ihn selbst genau zu durchdringen. In meiner Lernberatung setze ich oft auf diese Methode, indem ich Lernende in Gruppenarbeiten oder in „Lehrerrollen“ versetze. Sie sollen ihren Mitschülern die Inhalte so erklären, dass auch sie sie verstehen – dies fördert das eigene Verständnis immens.
3. Fehler als Lernchance nutzen
Ein weiteres zentrales Element beim eigenständigen Denken ist die Fehlertoleranz. Viele Lernende haben Angst, Fehler zu machen, und scheuen daher vor eigenständigen Lösungsversuchen zurück. Hier ist es wichtig, eine Lernkultur zu etablieren, die Fehler als notwendige Schritte im Lernprozess begreift. Das Motto lautet: „Wer keine Fehler macht, hat nichts gelernt.“ Indem Lernende ermutigt werden, eigene Lösungen zu entwickeln und dabei auch Fehler zu machen, wird ihr Denkvermögen gestärkt.
4. Diskussion und kritische Auseinandersetzung fördern
In meiner Arbeit erlebe ich, dass viele Lernende Schwierigkeiten haben, eine eigene Meinung zu formulieren oder Argumente kritisch zu hinterfragen. Dies liegt oft daran, dass sie es nicht gewohnt sind, Diskussionen zu führen oder ihre Gedanken zu strukturieren. Diskussionen – sei es im Unterricht, in Lerngruppen oder in der Beratung – sind jedoch ein effektives Mittel, um das eigenständige Denken zu schulen. Hier lernen die Lernenden, nicht nur ihre eigenen Argumente zu formulieren, sondern auch andere Perspektiven zu verstehen und kritisch zu hinterfragen.
5. Die Methode des sokratischen Dialogs
Eine besonders wirkungsvolle Methode, um eigenständiges Denken zu fördern, ist der sokratische Dialog. Diese Technik basiert darauf, dass der Lehrende dem Lernenden keine direkten Antworten gibt, sondern ihn durch gezielte Fragen dazu bringt, die Antwort selbst zu finden. In der Lernberatung hat sich diese Methode als äußerst effektiv erwiesen, da sie die Eigenständigkeit des Denkens stärkt und den Lernenden in die aktive Rolle des Erkenntnissuchenden versetzt.
Eigenständigkeit vs. KI: Wie Künstliche Intelligenz sinnvoll genutzt werden kann
Trotz aller Kritik an der Rolle von KI im Lernprozess, sollten wir sie nicht verteufeln. KI kann – richtig eingesetzt – eine wertvolle Unterstützung im Lernprozess sein. Sie kann beispielsweise helfen, Faktenwissen effizienter zu vermitteln oder bei der Beantwortung konkreter Fragen unterstützen. Wichtig ist jedoch, dass KI nicht als Ersatz für das eigene Denken gesehen wird, sondern als Ergänzung.
Ein möglicher Ansatz wäre es, Lernende gezielt mit KI zu arbeiten zu lassen, um Inhalte zu recherchieren oder sich neue Informationen zu erschließen. Gleichzeitig sollten sie aber auch darin geschult werden, diese Informationen kritisch zu hinterfragen und eigenständig weiterzudenken. Der Einsatz von KI sollte also nicht das Ziel sein, sondern ein Mittel, um Lernprozesse zu optimieren.
Bildungsniveau heute: Eine kritische Bestandsaufnahme
Wenn wir einen kritischen Blick auf das heutige Bildungsniveau werfen, fällt auf, dass viele Lernende zwar über technisches Wissen verfügen, es ihnen aber oft an grundlegenden Fähigkeiten wie kritischem Denken, Problemlösungskompetenz und Kommunikationsfähigkeit mangelt. Die zunehmende Digitalisierung und die damit einhergehende Verfügbarkeit von Informationen hat dazu geführt, dass viele Lernende glauben, dass es ausreicht, Fakten zu kennen. Doch Wissen alleine ist nicht genug – es geht darum, dieses Wissen auch anwenden und vermitteln zu können.
Hier liegt eine der größten Herausforderungen unserer Zeit: Wie schaffen wir es, dass Lernende nicht nur Informationen konsumieren, sondern auch verstehen und anwenden können? Wie fördern wir die Eigenständigkeit im Denken in einer Welt, in der Informationen jederzeit abrufbar sind?
Die Balance zwischen eigenständigem Denken und technischer Unterstützung
Die größte Herausforderung für die Zukunft des Lernens wird darin bestehen, eine Balance zwischen eigenständigem Denken und technischer Unterstützung zu finden. Künstliche Intelligenz kann den Lernprozess erleichtern, sollte aber nie das eigenständige Denken ersetzen. Die Aufgabe von Lernberatern und Lehrkräften wird darin bestehen, Lernende dazu zu befähigen, kritisch zu denken, Fragen zu stellen und sich eigenständig mit dem Lernstoff auseinanderzusetzen.
Wenn wir es schaffen, Lernende wieder dazu zu bringen, Lerninhalte nicht nur zu verstehen, sondern auch anzuwenden und zu vermitteln, haben wir einen großen Schritt in Richtung einer zukunftsfähigen Bildung gemacht.
Links zum Thema
https://www.bildungsserver.de/Kuenstliche-Intelligenz-in-der-Bildung
https://www.schuleaufdemweg.de/Eigenstaendiges-Denken
https://www.pedocs.de/Selbstreguliertes-Lernen
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