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Schreiben lernen: Was ein Kind alles leisten muss 

 20‑Jun‑2020

Von  Sabine Gessenich


Warum Silben tanzen und Schreiben nach Gehör dazu führen, dass Kinder meinen, sie könnten das richtige Schreiben nie lernen.


Unsere Alphabetschrift verlangt Konzentration auf das Wesentliche

Unsere Alphabetschrift mit ihren 26 Buchstaben plus Sonderzeichen bildet nicht alle Lautnuancen eines Lautes ab. Es gibt auch keine 1:1 Zuordnung, das heißt, wir haben nicht für jedes Phonem (=kleinste Einheit Lautsystem) ein entsprechendes Graphem (=kleinste Einheit Schriftsystem) zur Verfügung. Für 40 Phoneme stehen nur 26 Buchstaben plus die Sonderzeichen „? ä ö ü“ zur Verfügung. (Manchmal werden x,y und v aus dem Grundbestand herausgerechnet, weil sie nicht bedeutungsunterscheidend sind oder das y nur in Fremdwörtern oder Eigennamen vorkommt).

Die meisten Laute klingen innerhalb des Redeflusses nicht wie der Einzellaut. Sie hängen ab von der Kieferöffnung, der vertikalen und horizontalen Zungenposition und der Lippenrundung. Man kann das ganz einfach nachvollziehen, indem man die Laute a, e, i ausspricht oder auch einmal u und ü im Wechsel.  Laute verändern ihre Klangqualität, je nachdem, wo sie stehen. Wie zum Beispiel das be von Ball. Oder beim Beispiel beten – Betten.

Man unterscheidet:

  • Vokale: a,e,i,o,u
  • Dehnbare Konsonanten: f,s,l,r,…
  • Plosivlaute: b,p,d,t,g,k (nicht dehnbar)

Vokale geben Ton und Konsonanten geben Geräusch

Was ist das Schwa?

Der Schwa-Laut befindet sich im Deutschen häufig am Wortende. Wörter, die geschrieben mit einem e enden, enden gesprochen mit ǝ. Ein auf dem Kopf stehendes und verdrehtes kleines e. Für sich alleine  klingt der Schwa-Laut eher wie ein kratzendes Ausatmen oder wie wenn wir überrascht sind. Probieren Sie es aus Trepp-ǝ, Hos-ǝ, mocht-ǝ. Wir treffen das [ǝ] aber auch in Vorsilben wie ge- oder be-. Schreibanfänger lassen diesen Laut häufig weg, weil man ihn nicht hört.

Die gesprochene Sprache wird als ununterbrochener Lautstrom wahrgenommen – die Schriftsprache ist gegliedert in Satz, Wort, Silbe und Buchstabe. Die Laute, die als Buchstaben zu verschriften sind, kann man nicht isoliert hören.

Die Fähigkeit, Lautströme in geschriebenen Text umzuwandeln ist nicht angeboren.

Was heißt das jetzt für ein Kind, welches Schreiben lernt?

Es muss zunächst verstehen, dass die Laute, die wir sprechen von Zeichen dargestellt werden und dass diese Zeichen allein keine Bedeutung haben.

Ein Kind, das mit dem Schreiben anfängt, muss die Laute übersetzen und aufeinander aufbauen. Nach und nach versteht es die Regeln und die Logik des rechtssprachlichen Systems, was wiederum beständiges Üben voraussetzt. Dies findet heutzutage in Schulen viel zu wenig statt. Ein zusätzliches Problem sind die Dialekte. Kinder kennen das Hochdeutsch teilweise nur aus den Medien. Wenn hier Schreiben nach Gehör als passenden Strategie verwendet wird, kann das nur schiefgehen.

Bereits im Vorschulalter kann mit Kinderversen und Abzählreimen das Gliedern von Silben geübt werden. Die ersten Lernwörter sollten aus übersichtlich gebildeten Silben bestehen. Die Problematik an unserem Schriftsystem ist, dass man Rechtschreibung nicht ‚hören‘ kann. Dehnungs-h, Doppelvokale, gedoppelte Konsonanten sind weder hörbar, noch können sie hörbar gemacht werden.

Zum ersten Mal schwierig wird es, wenn Doppelkonsonanten auf einen Vokal folgen, da der akustische Unterschied nur in der Länge der Betonung des Vokals liegt.

Wie erklärt man einem Kind, wann Konsonanten gedoppelt werden?

Der Lernserver der Universität Münster verwendet zur Erklärung den quantitätsbezogenen Ansatz: Der Schreibende muss die Länge des Vokals feststellen.  Wenn der Schreibende nach einem kurzen betonten Vokal nur einen Konsonanten hört, wird dieser verdoppelt. Beispiel fallen: a ist kurz, es ist nur ein l zu hören, also wird das l gedoppelt.

Der Vorteil dieser Erklärmethode ist, dass einsilbige Wörter nicht in zweisilbige verlängert werden müssen, um die richtige Schreibung herauszufinden. Wenn von Anfang an geübt wird, die Vokallänge zu erfassen, fällt es auch bei mehrsilbigen Wörtern leicht, Konsonantendopplungen zu erkennen. Beispiel Tomate: Das Kind identifiziert zuerst den betonten Vokal. Das ist hier das a. Nach dem a folgen bereits zwei Konsonanten – also muss nicht gedoppelt werden.

Was macht den Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache aus?

Wer schreibt bleibt, sagt der Volksmund. Geschriebenes ist dauerhaft archivierbar. Die Mitteilung der Inhalte erfolgt einseitig. Geschriebene Texte sollten deshalb so eindeutig verfasst werden, dass keine Nachfragen erforderlich sind. Sprechen erfolgt unter Zuhilfenahme von Mimik, Gestik und Klang. Emotionen kommen direkt beim Gegenüber an – beim Schreiben kann man zwar durch bestimmte Schreibweisen und Emojis Gefühle ausdrücken, muss diese aber selbst definieren. Reden erfolgt meistens im Dialog, also interaktiv. Deshalb ist es möglich, nachzufragen, wenn man etwas nicht verstanden hat. Auch ins Wort fallen ist möglich. Was ich gesagt habe, kann ich nicht 1:1 zurückholen, außer es wurde aufgenommen.

Wie erklärt man einem Kind, warum Wortstämme immer gleich geschrieben werden?

- oder: Was ist das morphologische Prinzip?

Wie in meinem Beitrag „Deutsche Rechtschreibung oder: Wer hat sich das bloß ausgedacht?“ beschrieben, verdanken wir es der Erfindung des Buchdrucks, dass Wortstämme in ihrer Schreibweise gleich gehalten werden, auch wenn man sie unterschiedlich ausspricht. Dies vereinfacht das Lesen und das Abspeichern von Wortbildern.

Dem Prinzip der Morphemkonstanz unterworfen sind folgende orthographische Phänomene:

- Umlautbildung (Wand – Wände, Baum – Bäume)

- Auslautverhärtung (Feld – Felder, Liebling – lieben, du legst – legen)

- Schreibung des s-Lautes (Gras – Gräser, weiß – weiße)

- Schreiben des silbentrennenden h (mühselig – Mühe)

- Schreibung des x-Lautes (merkst – merken, legst – legen, Klecks – kleckern)

- „Unsilbisches r“ hinter betontem Langvokal (Garten – Gärten, hörte – hören, Bier – Biere)

- Schärfung (du kommst – kommen)

- markierte und unmarkierte Dehnung (fahren – fuhr, malen – gemalt)

Es gibt übrigens nur ganz wenige Wörter, deren Bedeutungsunterschied durch grafische Unterscheidung klar wird. Dies ist zum Beispiel bei Wahl-Wal, Lied-Lid, Miene-Mine der Fall. Viel häufiger gibt es Wörter, deren Bedeutung aus dem Satzkontext geschlossen werden muss. Im Volksmund nennt man sie Teekesselchen, zum Beispiel Schloss-Schloss, Bank-Bank, Tor-Tor, Hahn-Hahn, usw.).

Wie erklärt man dem Kind die Groß-und Kleinschreibung?

Als Einstieg empfiehlt sich die vereinfachte Erklärung, dass Nomen großgeschrieben werden. Ein Nomen erkennt man am Artikel, dass man die Mehrzahl bilden kann, dass man es anfassen, riechen, schmecken, sehen kann.

Im zweiten Schritt lernt es dann folgende Fälle, bei denen großgeschrieben werden muss:

Satzanfang

Eigennamen

Markennamen

Anrede

Substantive (Lebewesen und Dinge)

Schwierig zu verstehen wird es bei Verben und Adjektiven, die im Zusammenhang mit Eigennamen oder Beschreibungen als Substantiv verwendet werden. Beispiele: Der Schiefe Turm von Pisa, das Rote Meer, etc. Eigentlich kann man das nur auswendig lernen oder nachschlagen.

Die nächste Hürde: die Getrennt- und Zusammenschreibung

Vor Einführung des Buchdruckes gab es noch keine Großbuchstaben und Leerzeichen zwischen den Wörtern. Etwa so: dasschreibenwardamalsdengelehrtenüberlassen. Die Getrennt- und Zusammenschreibung vereinfacht also die Lesbarkeit.

 Wo ein Leerzeichen gesetzt wird, findet man durch die a) Ersetzungsprobe oder die b) Einschubprobe heraus:

  • a) Ersetzungsprobe: Kann man ein Wort durch ein anderes ersetzen, ergeben sich sein Anfang und sein Ende

dasschreibenwardamalsdengelehrtenüberlassen

Das Schreiben war damals den Gelehrten überlassen.

Das Lesen          ist  heute     für  Jeden         möglich.

  • b) Einschubprobe: Wenn zwischen den Teilen eines zusammengesetzten Wortes nichts dazwischengeschoben werden kann, muss zusammengeschrieben werden:

Gartenzaun, aber Zaun des Gartens

    Großmutter, aber große liebe Mutter

Grundsätzlich kann man sich hier auch merken, dass zusammengeschrieben wird, wenn das beschreibende Verb oder Adjektiv keine Endung haben.

Die Artikel von zusammengesetzten Nomen leiten sich immer aus dem zweiten Wortteil ab.

Was wird über diese ganzen Regeln hinaus noch benötigt?

Die Analyse und Codierung von gehörten Lauten ist eine enorme Gedächtnisleistung für Schreibanfänger. Zusätzlich braucht es eine geschulte visuelle Wahrnehmung, da sich die 30 Buchstaben des Alphabets verwirrend ähnlich sehen (d-b-q-p). Diese hilft beim Schreiben auch, Größenverhältnisse und Zeichenabstände richtig einzuschätzen und das Geschriebene immer wieder zu kontrollieren. Eine ausgereifte Feinmotorik ist die Basis, um Buchstaben exakt und unverkrampft schreiben zu können.

Was heißt das alles für den Schreibunterricht in der ersten Klasse?

Bei allem was wir bis hierher gelernt haben, sind nach meiner Ansicht Kinder zu bewundern, die von Anfang an ohne große Schwierigkeiten Lesen und Schreiben lernen. Die Fehler, die sie beim Schreiben machen, können genutzt werden, um ihnen die Besonderheiten der deutschen Orthografie nahezubringen. Hierfür braucht es aber einen qualifizierten Rechtschreibunterricht. Ein Austeilen von Übungstexten für das nächste Diktat ist hiermit nicht gemeint. Es ist auch völlig verkehrt, die Kinder in den ersten zwei Jahren so schreiben zu lassen, wie sie wollen. Worte, die immer wieder anders falsch geschrieben werden, prägen sich falsch im Langzeitgedächtnis ein und sind nur schwer wieder löschbar. Wenn Kinder nicht von Anfang an mit den Regeln der Rechtschreibung vertraut gemacht werden, ‚basteln‘ sie sich ihre eigenen Regeln. Dies wirkt sich auch auf andere Fächer aus und Lernstörungen sind gewissermaßen vorprogrammiert.

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