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Lernen liebt Wissen – Aber nur, wenn wir aufhören zu optimieren und anfangen zu verstehen 

 03. Oktober 2025

Von  Sabine Gessenich

Es war ein Montagmorgen, als mir eine Horterzieherin von einem Jungen erzählte, der beim Rechnen "immer alles falsch macht". Sie hatte bereits verschiedene Methoden ausprobiert, Arbeitsblätter angepasst, zusätzliche Übungen gegeben. Nichts half. "Er will einfach nicht", sagte sie erschöpft.

Als ich mir die Situation genauer ansah, entdeckte ich etwas Faszinierendes: Der Junge machte es nicht falsch – er machte es anders. Sein Weg zu den Zahlen war ein völlig individueller, und in dem Moment, in dem wir aufhörten zu optimieren und anfingen zu verstehen, öffnete sich ein Raum, in dem echtes Lernen möglich wurde.

Diese Begebenheit bringt etwas auf den Punkt, das in der aktuellen Diskussion um Lernen und Wissen oft untergeht: Echtes Wissen entsteht nicht durch Optimierung, sondern durch Verstehen. Und Verstehen braucht Beziehung.

Wenn Lernen zur Optimierungsaufgabe wird

Unsere Bildungslandschaft ist zunehmend geprägt von dem Wunsch nach Messbarkeit, Vergleichbarkeit und Effizienz. Lernfortschritte werden in Daten erfasst, Kinder in Leistungsgruppen eingeteilt, Methoden auf ihre Skalierbarkeit hin überprüft. Der Mensch wird zum Datenpunkt, der optimiert werden muss.

Doch was passiert dabei mit dem Lernen selbst? Und vor allem: Was passiert mit dem Wissen, das wir eigentlich vermitteln wollen?

In einer Zeit, in der überall über Co-Creation, Wissensmanagement und das Zusammenspiel von menschlicher und künstlicher Intelligenz diskutiert wird, möchte ich eine andere Perspektive einbringen – eine, die radikal mit der Logik der Kontrolle bricht.

Lernen geschieht in Beziehung, nicht in Masse

Der erste fundamentale Perspektivwechsel liegt darin zu erkennen: Wissen entsteht dort, wo Menschen sich wirklich gesehen und verstanden fühlen – nicht dort, wo sie funktionieren müssen.

Denken wir an die Momente, in denen wir selbst am meisten gelernt haben. War es in der anonymen Vorlesung mit 300 Studierenden? Oder war es im Gespräch mit jemandem, der sich wirklich für unsere Fragen interessiert hat, der unsere Unsicherheit gespürt und darauf reagiert hat?

Lernen ist ein zutiefst relationaler Prozess. Wenn wir versuchen, ihn zu industrialisieren, verlieren wir genau das, was ihn lebendig macht: die menschliche Verbindung.

"Schwierigkeiten" sind Wegweiser, keine Störungen

Hier kommt der zweite radikale Gedanke ins Spiel: Was wir als Lernschwierigkeit etikettieren, zeigt uns oft nur, dass der Standardweg nicht passt.

Ob Dyskalkulie, Lese-Rechtschreib-Schwäche oder ADHS – was, wenn diese "Diagnosen" keine Defizite beschreiben, sondern Hinweise auf individuelle Lernwege? Was, wenn das "Problem" nicht im Kind liegt, sondern in unserem starren System?

Diese Umdeutung verändert alles. Anstatt zu fragen "Wie bringe ich das Kind dazu, so zu lernen, wie es soll?", fragen wir: "Was will mir dieses Kind über Lernen beibringen?"

Plötzlich werden aus vermeintlichen Störungen wertvolle Informationen. Der Junge aus dem Hort hat mir mehr über Mathematik beigebracht als jedes Methodenbuch – einfach dadurch, dass er mir zeigte, wie vielfältig Zugänge zu Wissen sein können.

Würde vor Bewertung

Wenn wir Lernen so verstehen, brauchen wir auch andere Räume: Räume ohne ständige Bewertung, in denen Unsicherheit und Nicht-Wissen erlaubt sind.

Echter Wissenserwerb funktioniert nicht unter Dauerkontrolle. Er braucht das Gefühl von Sicherheit, die Erlaubnis, Fehler zu machen, die Freiheit, auch mal auf Umwegen anzukommen.

Würde vor Bewertung bedeutet: Ich sehe dich als Menschen mit einzigartigem Potenzial – nicht als Leistungsträger, der bestimmte Kriterien erfüllen muss.

Haltung schlägt Methode – immer

Hier liegt vielleicht der wichtigste Unterschied zu vielen anderen Ansätzen: Die beste Lernmethode nützt nichts, wenn die Grundhaltung auf Kontrolle statt auf Verstehen ausgerichtet ist.

Viele Anbieter schulen Methoden. Ich bin überzeugt, dass wir Haltungen verändern müssen.

Eine Methode ist ein Werkzeug. Eine Haltung ist die Art, wie wir dem Menschen begegnen. Und diese Begegnung entscheidet darüber, ob Lernen wirklich geschehen kann.

Wissen wird lebendig durch Teilen

Genau hier schließt sich der Kreis: Gemeinsames Lernen verändert nicht nur, was wir wissen, sondern auch, wer wir dabei werden.

Wissen, das geteilt wird, wächst. Es verändert sich. Es bekommt neue Facetten durch die Perspektiven anderer. In der Co-Creation entsteht etwas, das mehr ist als die Summe seiner Teile.

Aber – und das ist entscheidend – dieses Teilen braucht Vertrauen. Es braucht Räume, in denen Menschen nicht bewertet werden, sondern sich zeigen dürfen.

Technologie soll dienen, nicht herrschen

In der aktuellen Debatte über KI in der Bildung gilt für mich: KI kann Lernen unterstützen, aber sie kann niemals die menschliche Verbindung ersetzen, die echtes Verstehen ermöglicht.

Meine Vision ist die einer "empathischen KI" – eine Technologie, die nicht steuert und optimiert, sondern zuhört und dient. Die spürt, wann jemand unsicher wird, und diese Information nutzt, um die menschliche Beziehung zu stärken – nicht um sie zu ersetzen.

Wo Verstehen wirkt, wird Technik leise.

Klein bleiben als bewusste Entscheidung

Und damit komme ich zum letzten, vielleicht provokantesten Punkt: Nicht alles muss skalieren. Manchmal entsteht die größte Wirkung durch Tiefe statt Reichweite.

In einer Welt, die ständig nach Wachstum ruft, ist das bewusste Klein-Bleiben ein radikaler Akt. Meine Workshops sind begrenzt auf 12 Personen. Meine Ausbildung findet im Einzelunterricht statt. Betriebswirtschaftlich ineffizient, menschlich meiner Meinung nach unersetzlich.

Denn echtes Verstehen braucht Raum. Es braucht Zeit. Es braucht Menschen, die sich wirklich begegnen.

Ein Ausblick

Lernen liebt Wissen – aber nur, wenn wir bereit sind, die Logik der Kontrolle hinter uns zu lassen. Wenn wir anfangen zu verstehen, dass jeder Mensch einzigartig lernt. Wenn wir Räume schaffen, in denen Würde wichtiger ist als Bewertung. Wenn wir erkennen, dass Technologie dienen soll, nicht herrschen.

Ich freue mich auf die Gespräche und den Austausch darüber, wie wir gemeinsam eine Bildung gestalten können, die Menschen nicht optimiert, sondern entfaltet.

Denn am Ende geht es nicht darum, wie schnell wir lernen – sondern darum, wie menschlich wir dabei bleiben.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Blogparade "Lernen liebt Wissen" der Corporate Learning Community. Das 21. KnowledgeCamp der GfWM findet am 23.-24. Oktober 2025 in Berlin statt: https://www.gfwm.de/gkc25

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