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Schreiben heißt sich zeigen: Warum Kinder mehr brauchen als Rechtschreibung 

 22. August 2025

Von  Sabine Gessenich

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Schreiben in der Schule – warum es für Kinder oft zur Fehlerfalle wird

Viele Kinder erleben Schreiben als etwas Bedrohliches.
Nicht, weil sie nichts zu sagen hätten.
Nicht, weil ihnen die Fantasie fehlt.
Sondern weil Schreiben in der Schule oft zur Fehlerfalle wird.

Ein falscher Buchstabe, ein vertauschter Laut, ein fehlendes Komma – und schon prangt die rote Korrektur auf dem Blatt.
Aus einem lebendigen Ausdruck wird ein „falsch“.

So lernen Kinder früh: Schreiben = Risiko. Jeder Versuch kann misslingen.

Doch damit verkennen wir, dass hinter jeder Schriftspur ein Mensch steht. Jedes Wort, jede krakelige Linie ist der Versuch, etwas Inneres sichtbar zu machen.

Schreiben ist mehr als Technik – Handschrift als Resonanz

Wenn Kinder Schreiben lernen, geschieht mehr als reine Technik.
Schreiben ist immer auch Selbstoffenbarung.

Wenn ein Kind seinen Namen aufschreibt, ist das mehr als Buchstabenfolge – es ist ein „Das bin ich“.
Wenn ein Jugendlicher Gedichte in sein Heft kritzelt, zeigt sich darin nicht nur Sprachübung, sondern Suche, Sehnsucht, Selbstwerdung.

Handschrift ist wie eine zweite Stimme.
Sie verrät Tempo, Kraft, Zögern. Sie zeigt, ob jemand sicher und schwungvoll oder tastend und unsicher schreibt.
Und vor allem: sie zeigt, dass jemand da ist.

Dass diese Dimension weit über den pädagogischen Alltag hinausgeht, bestätigt auch die Neurowissenschaft. Die Stiftung Handschrift verweist auf Studien (James & Engelhard, 2012; Van der Meer & Van der Weel, 2024), die zeigen: Beim Handschreiben werden komplexe neuronale Netzwerke aktiviert, die beim Tippen nicht in gleicher Weise entstehen. Kinder entwickeln dadurch robustere Gedächtnisspuren und ein tieferes Textverständnis.

Warum Kinder Angst vor dem Schreiben entwickeln

Das Problem liegt nicht am Schreiben selbst, sondern am Umgang damit.

  • Fehlerfreiheit wird zum Maßstab.
  • Form wird bewertet, nicht der Gedanke.
  • Rechtschreibung dominiert – die Botschaft, die ein Kind senden will, gerät in den Hintergrund.

So lernen Kinder: Schreiben ist ein Ort, an dem man scheitern kann.

Die Folgen sind sichtbar:

  • Manche schreiben nur das Nötigste.
  • Andere ziehen sich zurück und verstecken ihre Ideen.
  • Viele verlieren das Vertrauen in ihre eigene Sprache.

Paradigmenwechsel: Von der Korrektur zur Resonanz im Schreiben

Doch Kinder lernen Schreiben anders, wenn wir anders hinschauen.

Schreiben kann ein Ort der Resonanz sein – wenn wir nicht nur kontrollieren, sondern wahrnehmen.
Resonanz bedeutet hier: Wir achten nicht nur auf Buchstaben, sondern auch auf das, was die Schrift uns erzählt – Mut, Ausdruck, manchmal Unsicherheit.

Ein Beispiel:
Ein Kind schreibt: „Ich hab fekel gehn.“
Die reine Korrektur macht daraus einen Fehler.
Eine resonante Reaktion wäre: „Du wolltest aufschreiben, dass du Vögel gesehen hast. Spannend, wie du das hörst! Wir schreiben es so: Vögel.“

Das Kind erlebt: Sein Ausdruck wird ernst genommen. Der Gedanke zählt, nicht nur die Form. Und genau dadurch wächst die Bereitschaft, weiterzuschreiben.

Beispiele aus der Praxis – wie Resonanz Kinder beim Schreiben stärkt

Fall 1: Die lebendige Idee
Ein Kind schreibt eine fantastische Drachen-Geschichte. Rechtschreibung chaotisch – aber voller Energie.
Resonanz heißt: die Fantasie würdigen und sanft kleine Brücken zur richtigen Schreibweise bauen.

Fall 2: Handschrift als Stimmungsträger
Eine Schülerin schreibt mal schwungvoll, mal eng gedrängt. Die Schrift zeigt ihre innere Bewegung.
Resonanz heißt: das zu bemerken und zu spiegeln – nicht nur Buchstabenformen zu zählen.

Fall 3: Mut zum Unvollkommenen
Ein Jugendlicher schreibt einen Rap-Text, sprachlich wild, rhythmisch stark.
Resonanz heißt: die Energie feiern – und daran anknüpfen, Sprache zu verfeinern.

Potentialentfaltung durch Schreiben – Selbstwirksamkeit erleben

Schreiben ist ein Akt der Selbstwirksamkeit.
Jedes Wort, jeder Strich: eine Spur, die bleibt.

Wenn Kinder Schreiben lernen dürfen, ohne sofort auf richtig/falsch reduziert zu werden, geschieht etwas Entscheidendes:

  • Sie trauen sich mehr.
  • Sie entdecken ihre eigene Stimme.
  • Sie erleben Sprache als Werkzeug, um die Welt zu gestalten.

Das ist Potentialentfaltung:
Sich zeigen dürfen, ohne Angst.

Dass diese Erfahrung das Lernen auf einer tieferen Ebene verstärkt, zeigt auch die Forschung. Die bekannte Studie von Mueller & Oppenheimer (2014) konnte belegen: Studierende, die handschriftlich Notizen machten, erzielten deutlich bessere Ergebnisse als jene, die am Laptop tippten – weil sie Inhalte stärker verarbeiteten. Genau hier liegt die Kraft des Schreibens: es zwingt zur Auswahl, Strukturierung und bewussten Auseinandersetzung mit Inhalten. (Quelle: Stiftung Lesen)

Die Zukunft der Schreibförderung – analog und digital verbinden

Viele fragen sich heute: Welche Zukunft hat die Handschrift im digitalen Zeitalter?

Meine Antwort: Eine große.
Handschrift bleibt ein unverzichtbarer Ausdrucksträger – ein kulturelles Gut und ein Resonanzraum.

Gleichzeitig können digitale Hilfen neue Möglichkeiten schaffen: Sie können Signale sichtbar machen, Prozesse unterstützen und Lehrkräfte entlasten.
Wichtig ist nur: Sie sollen begleiten, nicht kontrollieren.

So entsteht eine neue Balance:

  • Das Analoge bewahrt die sinnliche, menschliche Seite.
  • Das Digitale macht Lernprozesse transparenter und unterstützt die Förderung.

Die Stiftung Handschrift geht diesen Weg bereits praktisch: Mit dem Tag der Handschrift erreichen jedes Jahr über 9.000 Schüler:innen in Hessen den Raum, sich schriftlich auszudrücken. Projekte wie die Schreibpaten und Schreibmentoren ergänzen das Angebot, indem sie Kinder individuell fördern und Lehrkräfte fortbilden. Sie zeigen: Wenn Schreiben Resonanz erfährt, wird es zum Motor von Bildung und Teilhabe.

Fazit: Schreiben heißt sich zeigen – Mut machen statt Fehler zählen

Am Ende bleibt eine einfache Wahrheit:
Wer schreibt, zeigt sich.

Jeder Buchstabe, jede Zeile ist mehr als Information.
Es ist der Mut, einen Teil von sich selbst sichtbar zu machen.

Unsere Aufgabe – als Pädagog:innen, als Begleiter:innen, als Gesellschaft – ist es, diesen Mut nicht kleinzureden, sondern zu stärken.
Nicht nur Fehler zu zählen, sondern Ausdruck zu feiern.
Nicht nur zu korrigieren, sondern Resonanz zu geben.

Denn Schreiben heißt: Ich bin da.
Und das ist immer richtig.

Links und Quellen


https://www.tagderhandschrift.de/infos/schreiben-ist-bildung/

https://wll.news/interview/interview_raoul_kroehl_stiftung_handschrift

https://potentialo.de/warum-lesen-schreiben-und-rechnen-fuer-die-kognitive-entwicklung-unverzichtbar-sind/

https://potentialo.de/besseres-textverstaendnis-durch-mehr-rechtschreibkompetenz/

https://potentialo.de/potentialo-erfolgsbericht-clara-winter-7-klasse/



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